Das Museum der Natur Hamburg beherbergt eine der weltweit größten Sammlungen von Ringelwürmern. Hierzu zählen Regenwürmer, Blutegel und ihre Verwandten im Meer. Jenna Moore ist Kuratorin dieser Sammlung und eine der wenigen Spezialisten und Spezialistinnen weltweit, die diese wenig bekannte, aber wichtige Tiergruppe erforschen. Ein Interview mit ihr:
Die Ringelwurmsammlung ist eine der bedeutendsten weltweit. Warum ist sie für die Wissenschaft und und die Beantwortung von Umweltfragen so wichtig?
Unsere Sammlung ist eine der ältesten in Deutschland – sie enthält Material, das im frühen 19. Jahrhundert gesammelt wurde. Seitdem ist die Sammlung stetig gewachsen. Mit über 3600 Typus-Exemplaren haben wir die zweitgrößte Typus-Sammlung von Ringelwürmern weltweit. Typus-Exemplare sind die Originalreferenzen für Arten. Sie sind daher für unser Wissen über die Biodiversität äußerst wichtig.
Was sind besondere Objekte in der Regenwurmsammlung?
Dank Johann Wilhelm Michaelsen, dem ersten Kurator der Sammlung und einem der historisch bedeutendsten Taxonomen für Regenwürmer, verfügen wir über eine erstaunliche Anzahl von Typusexemplaren. Allein aus dem Raum Hamburg stammen 13 dieser Exemplare. Wir haben Vertreter einiger spektakulär großer Regenwurmarten aus den Anden, Papua-Neuguinea und Rumänien. Unsere Regenwurmsammlung ist in Bezug auf die geografische Vertretung ungewöhnlich umfassend.
Warum sind Würmer so wichtig für das Ökosystem?
Ringelwürmer spielen in ihrer Umgebung viele ökologische Rollen. Am bekanntesten ist, dass Regenwürmer wichtige Zersetzer sind, die organisches Material abbauen und durch ihre Grabaktivitäten den Boden verbessern. Einige Meereswürmer spielen eine ähnliche Rolle, indem sie sich in das Sediment eingraben. Grabende Würmer lockern den Boden oder das Sediment auf, das sonst verdichtet würde, und transportieren Nährstoffe und Sauerstoff in tiefere Schichten. Dadurch können Pflanzenwurzeln und andere Tiere leichter eindringen. Regenwürmer sind daher für die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelproduktion für den Menschen von entscheidender Bedeutung. Marine Anneliden haben in den Ozeanen noch vielfältigere Funktionen als Raubtiere, Beutetiere, Filtrierer, Aasfresser, Parasiten sowie Wirte. Sie leben in allen Lebensräumen, von flachen Riffen bis zur Tiefsee, einschließlich der Wassersäule und hydrothermalen Quellen.
Wie konnten Forschende anhand der Regenwürmer in der LIB-Sammlung die Theorie der Kontinentalverschiebung untermauern?
Der erste Kurator der Anneliden-Sammlung, Johann Wilhelm Michaelsen, der von 1894 bis 1937 im Museum tätig war, interessierte sich für Biogeografie. Er untersuchte anhand der umfangreichen Sammlung die weltweite Verbreitung von Regenwurmarten. Regenwürmer können während ihres Lebens nicht sehr weit wandern. Seine Beobachtung, dass Regenwurmarten beispielsweise in Afrika und Südamerika enger miteinander verwandt waren als mit denen auf den nördlichen Kontinenten floss in Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung ein.
Wie trägt Ihre Arbeit zu einem besseren Verständnis der Umwelt bei?
Meine Forschung konzentriert sich auf die Charakterisierung der marinen Anneliden-Biodiversität durch die Beschreibung neuer Arten und die Rekonstruktion ihrer Evolution mit genetischen Methoden. Ich interessiere mich besonders dafür, wie Wurmkörper aus funktioneller Sicht „arbeiten”. Ein Teil der Charakterisierung der Biodiversität besteht darin zu verstehen, wie Arten in den Weltmeeren verteilt sind. Wenn wir ein Verständnis dafür entwickeln können, wie viele Arten es tatsächlich gibt, wo sie vorkommen und welche Umweltfaktoren ihre Verbreitung beeinflussen, schaffen wir eine Grundlage für das Verständnis von Veränderungen der Biodiversität.
Bei Meerestieren mit schwimmenden Larven ging man früher davon aus, dass es in den Ozeanen nur wenige Barrieren gibt und die Arten weit verbreitet sind. Mit Hilfe der Genetik lernen wir jedoch immer mehr, dass viele Arten eine eingeschränktere geografische Verbreitung haben.
Aus welchen Regionen stammen die Anneliden in der LIB-Sammlung?
Die Sammlung umfasst Regenwürmer, Blutegel sowie marine Anneliden aus aller Welt. Insbesondere Meereswürmer sind äußerst vielfältig – einige haben Kiefer, Stacheln oder Schuppen, sind parasitär oder schwimmen frei. Die Vielfalt der Körperbaupläne bei Anneliden ist enorm, insbesondere im Meer.
Unsere Sammlung spiegelt diese Vielfalt wider und ist ungewöhnlich umfassend. Wir haben Exemplare des größten Anneliden – des marinen „Sandstreichers“, der eine Länge von bis zu fünf Metern erreicht. Bei uns sind auch viele ungewöhnliche Gruppen vertreten, darunter pelagische Arten wie Tomopteris, die schwer zu sammeln und in Sammlungen nicht oft zu finden sind. Wir haben Vertreter fast aller Familien mariner Anneliden und, wie gesagt, eine der größten Typus-Sammlungen der Welt.
Obwohl unsere Sammlung einen globalen Umfang hat, liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der südlichen Hemisphäre. Arten aus Australien, Südamerika und dem südlichen Afrika sind in den frühesten Sammlungen besonders gut vertreten. Viele Exemplare aus der Antarktis wurden Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts von den ehemaligen Kuratorinnen Gesa Hartmann-Schröder und Angelika Brandt hinzugefügt.
Beobachten Sie die Auswirkungen des Klimawandels?
Die meisten Beobachtungen darüber, wie der Klimawandel die Verbreitung von Würmern beeinflusst, wurden mit Landarten wie Regenwürmern durchgeführt. Aber es gibt auch einige Studien, die dies im marinen Bereich zeigen. Das Hauptproblem bei marinen Wirbellosen im Allgemeinen ist, dass sie nur unzureichend erforscht sind, sodass wir nicht einmal wissen, wie viele Arten es gibt, geschweige denn uns gut mit ihrer Verbreitung oder Ökologie auskennen. Im Gegensatz dazu wissen wir bereits viel über Vögel, sodass es sofort auffällt, wenn einer an einem falschen Ort ist. Bei Würmern fehlen uns oft grundlegende Kenntnisse wie die Identifizierung von Arten oder ihre Verbreitung. Deshalb ist es so wichtig, zunächst eine Grundlage an Wissen über die biologische Vielfalt zu schaffen. Die ermöglicht es uns dann, Veränderungen und deren Ursachen zu identifizieren.
Die Erforschung von Würmern ist also kein Massenphänomen?
Nein, es ist eine sehr kleine Forschungsgemeinschaft, vor allem wenn man bedenkt, dass es mehr als 17.000 bekannte Arten gibt und noch viele weitere zu entdecken sind. Was Meereswürmer angeht, treffen sich alle drei Jahre zwischen 100 und 200 Forschende aus aller Welt zu einer großen Konferenz. Das zeigt, wie klein die Gemeinschaft ist. In Deutschland gibt es vergleichsweise viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die Würmer erforschen. Das bietet fantastische Möglichkeiten für Kooperationen.
Was fasziniert Sie am meisten an Ringelwürmern?
Ringelwürmer gehören neben den Gliederfüßern und Chordaten zu den wenigen segmentierten Tiergruppen. Ihre Segmentierung ermöglicht eine große Flexibilität für verschiedene Arten der Körperspezialisierung, wie wir sie beispielsweise bei Krebstieren sehen. Das Forschungsgebiet der Anneliden ist derzeit besonders spannend, da vieles, was wir über ihre Evolution zu wissen glaubten, vor etwa 15 Jahren durch Genomdaten völlig auf den Kopf gestellt wurde. Es ist also eine äußerst spannende Zeit, um die Evolution der Anneliden neu zu überdenken und ihre morphologische Entwicklung zu untersuchen.
Haben Sie einen Lieblingswurm?
Mein Lieblingswurm heißt Chaetopterus, eine morphologisch hochspezialisierte Art, die mit einem Schleimnetz filtert und über spezielle Teilstücke für diese besondere Art der Nahrungsaufnahme verfügt. Die Familie Chaetopteridae, zu der sie gehören, ist mein taxonomisches Spezialgebiet. Was meine Bewunderung angeht: Ich bin ein großer Fan von Fischblutegeln – sie können sehr farbenfroh und schön sein und ich finde sie ziemlich niedlich.
Und Ihre Lieblingsart?
Eine meiner Lieblingsarten in unserer Sammlung ist ein Paratypus-Exemplar eines Riesenregengwurms aus Ecuador – Martiodrilus ischuros. Der Bruder eines LIB-Kollegen half als Kind bei der Sammlung der Exemplare, die für die Beschreibung verwendet wurden. Doch in der offiziellen Beschreibung wurde nur das Forschungsteam erwähnt. Die Geschichte ist ein faszinierender Zufall, wirft aber auch wichtige Fragen hinsichtlich Herkunft und Anerkennung auf. Wir möchten die Geschichte unserer Sammlung besser verstehen und insbesondere herausfinden, wie wir die Entdeckung, Charakterisierung und Erfassung von Biodiversität als Teil des globalen Netzwerks von Forschungsmuseen gerechter, fairer und offener gestalten können.
Zum Video-Interview im Rahmen der Sonderausstellung:
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