Unsere nächsten Verwandten in der Tierwelt sind akut bedroht: Alle zwei Jahre erscheint eine neue Top 25 Liste der weltweit am stärksten gefährdeten Primaten. Erstellt von einer Gruppe aus Mitgliedern der Naturschutzorganisationen International Union for Conservation of Nature (IUCN) und Conservation International (CI) sowie der Internationalen Primatologischen Gesellschaft (IPS). Die Zerstörung der Lebensräume, Klimawandel und die illegale Jagd auf Wildtiere stellen die größten Bedrohungen für die einzigartige Fauna Madagaskars dar.
Dr. Livia Schäffler, Leiterin der Sektion Naturschutzökologie am LIB, forscht seit mehr als 20 Jahren an nachtaktiven Lemurenarten aus den Trockenwäldern West-Madagaskars, von welchen zwei auf dieser Liste stehen: Madame Berthes Mausmaki, der kleinste lebende Primat der Welt, wurde bereits mehrfach in die Top25 Auswahl aufgenommen, der Südliche Riesenmausmaki ist zum ersten Mal dabei. Beide Arten wurden von Livia Schäffler in der Liste genauer vorgestellt und deren Schutzstatus beschrieben. Seit Mitte Mai ist sie zurück in Madagaskar und setzt in der Region Menabe Central ihre Forschungs- und Naturschutzarbeit fort. In unserem Interview spricht sie über ihre Arbeit an diesem besonderen Ort, die Pläne des LIB, dort die Biodiversitätsforschung auszuweiten, und natürlich über die endemischen Lemuren:
Frau Schäffler, Sie arbeiten seit über 20 Jahren in Madagaskar. Wie hat Ihre Arbeit dort begonnen?
2003 habe ich zum ersten Mal ein Praktikum an der Forschungsstation Kirindy des Deutschen Primatenzentrums (DPZ) in Madagaskar gemacht. Ich war sofort fasziniert – von der Natur, den Tieren, den Menschen. Zurück in Deutschland habe ich meine Diplomarbeit am DPZ, mit Fokus auf Verhaltensökologie und Populationsgenetik abgeschlossen. Dann wollte ich raus aus dem Labor, zurück in den Wald. Angesichts der Bedrohung der biologischen Vielfalt in Madagaskar wollte ich Forschung für den Artenschutz anstelle von reiner Grundlagenforschung machen. So habe ich für meine Promotion ein eigenes Projekt entwickelt und 15 Monate lang im Feld die Populationen nachtaktiver Lemuren erfasst. Seit 2022 bin ich wieder regelmäßig für mehrere Monate vor Ort.
Sie forschen an einem der kleinsten Primaten der Welt – dem Madame Berthes Mausmaki. Wie steht es um diese Art?
Die Situation ist wirklich kritisch. In unserem Forschungsgebiet in der Region Menabe Central, eine etwa 65.000 Hektar große Waldfläche, die seit 2015 durch die Aire Protégée Menabe-Antimena (APMA) formell geschützt ist, gab es vormals stabile Populationen in allen Bereichen. Im Wald von Kirindy, in dem die Forschungsstation des DPZ liegt, ist eine Population, die im Rahmen von Langzeitstudien regelmäßig befangen wurde, innerhalb relativ kurzer Zeit eingebrochen. Im Jahr 2019 wurde das letzte Tier gefangen, ein erschreckender Anblick: abgemagert und ohne Fell. Einige Jahre lang war unklar, ob die Art aus ihrem gesamten Verbreitungsgebiet innerhalb der APMA verschwunden ist. Mediale Reaktionen, etwa in Le Monde, haben 2022 bereits den Vorwurf erhoben "Schande für Madagaskar – die Art ist ausgestorben“. In diesem Zusammenhang habe ich meine Populationserfassung nachtaktiver Lemuren wiederaufgenommen.
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Was bedeutet das für Ihre Forschung?
Wir versuchen, zu verstehen, was passiert ist. Zunächst ging es darum, herauszufinden, ob es überhaupt noch Populationen von Madame Berthes Mausmaki gibt. Im Rahmen meiner derzeit durch re:wild finanzierten Studien konnten ich zusammen mit meinen lokalen Feldassistenzen zum Glück noch stabile Populationen im nördlichen Bereich der APMA nachweisen, nicht jedoch im Wald von Kirindy und weiter südlich gelegenen Wäldern. Aussagen über das Verschwinden einer Art trifft man nicht leichtfertig, man braucht Daten, viele Daten. Wir durchsuchen seit 2022 jedes verbliebene Waldfragment innerhalb der APMA – engmaschig und mit regelmäßigen Wiederholungen. Es gibt kaum Populationserfassungen, die mit einem derart ungeheuren Aufwand betrieben werden. Nachdem die verbliebenen Vorkommen geklärt waren, stellte sich die Frage, warum die Art in einigen Bereichen lokal ausgestorben ist. Hierfür vermessen wir seit 2024 kleinräumig die Waldstruktur entlang der Transekte, an denen wir die nachaktiven Lemuren erfassen, und nehmen auch die mikroklimatischen Bedingungen auf. Zusammen mit meinem Kollegen Christoph Scherber werte ich auch Satellitenbilder aus, die Aussagen über die Kronendach-Dichte in den einzelnen Waldbereichen zulassen.
In einer aktuellen Publikation sind zwei Lemurenarten aus Madagaskar unter den 25 meistbedrohten Primaten. Waren Sie an der Auswahl beteiligt?
Die Liste wird alle zwei Jahre auf dem Kongress der International Primatological Society erstellt. Welche Arten aufgenommen werden, hängt oft davon ab, wer an der Konferenz teilnimmt und für die betreffende Art eintritt. Bislang hat sich Peter Kappeler vom DPZ auf Grundlage seiner lokalen Langzeitstudien und meiner großräumigen Populationserfassungen für Madame Berthes Mausmaki eingesetzt. Ich wurde in der Folge gebeten, das betreffende Kapitel im Top25 Most Endangered Primates Report zu schreiben – mittlerweile zum dritten Mal. Vom 20. bis 25. Juli 2025 findet in Antananarivo der nächste IPS Kongress statt, bei dem auch wieder die neue Liste der 25 am stärksten bedrohten Primaten festgelegt wird – angesichts meiner vorläufigen Ergebnisse, die ich auf dem Kongress vorstellen werde, werde ich meine Fokusart mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erneut auf die Liste bringen. Im Anschluss an den IPS Kongress nehme ich noch an einem Workshop teil, den Kollegen von der Universität Antananarivo für Expertinnen und Experten dieser mittlerweile über 20 beschriebenen Mausmaki-Arten organisieren.
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Warum ist Madagaskar so ein besonderer, aber auch schwieriger Ort für den Naturschutz?
Madagaskar ist ein globaler Biodiversitätshotspot. Die Artenvielfalt ist weltweit exzeptionell, ebenso wie der Anteil an endemischen Arten. Gleichzeitig ist das Land eines der ärmsten der Welt. Bildungs- und Einkommensmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung und wirtschaftliche Marktstrukturen sind nur eingeschränkt vorhanden. Die Menschen vor Ort brauchen den Wald, um zu überleben – sie nutzen vormalige Waldflächen für den Anbau von Reis, Erdnüsse oder auch Maniok und Mais - leider nicht unbedingt nachhaltig. Es ist jedoch nicht ausschließlich die Subsistenz-Landwirtschaft, die zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen beiträgt, der menschengemachte Klimawandel, Korruption und politische Instabilität machen die Situation nicht einfacher.
Wie gehen Sie damit um?
Mit Geduld, Respekt – und langfristiger Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Wenn wir den Schutz dieser Tiere ernst nehmen, müssen wir die Bedarfe der lokalen Bevölkerung berücksichtigen. Ich arbeite seit vielen Jahren in den Dörfern im Norden der APMA, wo Madame Berthes Mausmaki noch vorkommt. Wir arbeiten vor Ort mit lokalen Helfern zusammen, mit denen ich auf Madagassisch kommuniziere, die Menschen vertrauen mir mittlerweile. Solche interkulturellen Beziehungen müssen wachsen, das braucht Geduld. Wer einfach kommt, Daten für die eigene Forschung sammelt und wieder geht, wird nichts verändern.
Und wie beziehen Sie die Menschen konkret ein?
An der Forschungsstation stellen wir die lokale Dorfbevölkerung als Forschungsassistenten an und bilden sie im Rahmen von Forschungsprojekten aus. Durch ein regelmäßiges Gehalt sichern wir den Lebensunterhalt ihrer Familien im ländlichen Raum, die damit auch ihren Kindern eine regelmäßige Ernährung und den Schulbesuch ermöglichen können. Wenn wir in den Dörfern arbeiten, ist es die Regel, lokale Hilfskräfte auf per-diem Basis einzubeziehen – auch wenn es nur vier bis fünf Euro sind, ist das ein wichtiges Einkommen. Es gibt hier, abgesehen von der Landwirtschaft, wenig Möglichkeiten zur Unterhaltung. Die Leute warten förmlich darauf, dass ich mit meinem Team festangestellter Feldassistenten wieder zu ihnen komme. Aufgrund mangelnden Einkommens gibt es viele Kinder, die nicht zur Schule gehen können, obwohl Bildung die Grundlage für eine Veränderung der Situation vor Ort ist. Daher habe ich auch ehrenamtlich angefangen, mit dem kleinen Verein Nirina e.V., Spendengelder zu akquirieren, um Waisenkindern in den Dörfern den Schulbesuch zu ermöglichen. Mit diesem Verein bin ich auch dem Wunsch der örtlichen Jugend nachgekommen und habe mit Unterstützung meines Feldassistenten über die Weihnachtszeit 2024 ein kleines Fußballturnier organisiert, an dem die Mannschaften mehrerer Dörfer teilgenommen haben. Aus diesem zunächst privaten Engagement ist eine schöne Forschungsidee entstanden: Wer sich für den Schutz des Waldes im Umfeld des jeweiligen Dorfes einsetzt, kann an künftigen Turnieren teilnehmen. Im Rahmen meines derzeitigen Forschungsaufenthaltes kläre ich mit den nationalen und internationalen Stakeholdern in der Region, wie wir die örtliche Dorfjungend am besten für Biodiversitätsmonitoring, Wiederaufforstung oder Brandkontrolle einsetzen können. Diese Art der Beteiligung funktioniert – weil sie sich an den Bedarfen der Menschen orientiert und gleichzeitig Spaß macht.
Ein eher kurzfristiges Ziel des LIB ist ja, auch das Gebiet in Madagaskar stärker selbst zu erforschen. Wäre das dann auch mit einem Schwerpunkt auf Primaten?
Um effektiv zum Schutz der einzigartigen Natur in der Region beizutragen muss man auch politisch und wissenschaftlich präsent sein. Hierfür bauen wir am LIB die Kooperation mit dem DPZ an der Forschungsstation Kirindy derzeit weiter aus. Unser Forschungsauftrag ist jedoch nicht auf Primatenforschung beschränkt. Wir möchten den Biodiversitätswandel umfassender erforschen, die anthropogen bedingten Veränderungen verstehen und Lösungen für den Erhalt der Artenvielfalt entwickeln. Der Natur-Kulturraum, den die Region Menabe Central bietet, ist hierfür optimal geeignet. Ich untersuche ja bisher weiträumig, wie sich die Lemurenarten und die Waldstruktur über einen längeren Zeitraum entwickeln – welche Arten sich ausbreiten oder wohlmöglich aussterben. Wir werden diese Forschung künftig jedoch ausweiten. Beispielsweise haben wir am LIB große Kapazitäten im Bereich der Insektenforschung und können damit eine hier bisher noch vorhandene Lücke schließen. Hinzu kommen unsere Kompetenzen am Zentrum für Biodiversitätsmonitoring und Naturschutzforschung im Bereich der agrarökologischen Forschung und der Biodiversitätserfassung mit fortgeschrittenen Methoden wie dem Metabarcoding.
In dem Top25 Bericht wird auch erwähnt, dass Tourismus positive Auswirkungen auf den Bestand der bedrohten Arten haben kann. Wie das?
Touristinnen und Touristen bringen Geld. Als während der Corona-Pandemie niemand mehr kam, brach der Schutz zusammen: Patrouillen konnten nicht mehr finanziert, Gehälter mussten gekürzt werden. In diesem Zeitraum nahm der Waldverlust durch illegale Brandrohdung enorm zu. Nur wenn die Menschen auch wirtschaftlich vom Wald profitieren, können sie es sich leisten, ihn zu erhalten. Es gibt Vorschläge, in den Dörfern im Norden ökotouristische Angebote zu schaffen. Das wäre eine große Chance, denn der Großteil der Touristen kommt nach Madagasar, um die einzigartige Fauna zu erfahren. Mir begegnen auch immer wieder Reisende, die hierhin kommen, um insbesondere Madame Berthes Mausmaki zu sehen. Niemand möchte hier Massentourismus, aber ökologisch nachhaltiger Tourismus könnte tatsächlich eine Chance sein – sofern das durch Reisende eingebrachte Geld auch wirklich der Bevölkerung im ländlichen Raum zugutekommt.
Auch die Umsiedlungen der Tiere in sicherere Gebiete wird in der Studie als mögliche Maßnahme diskutiert…
Theoretisch ja – praktisch schwierig. Genehmigungen, lokale Akzeptanz, geeignete neue Lebensräume – all das steht in Frage. Man kann nicht einfach Tiere entnehmen und umsetzen, ohne die sozialen und ökologischen Folgen zu bedenken. Ich versuche derzeit, madagassische Partner vor Ort dafür zu sensibilisieren.
Haben Sie Hoffnung für Madame Berthes Mausmaki?
Ja. Die wenigen verbliebenen Populationen liegen in Wäldern, die von traditionell ansässigen Dorfgemeinschaften der Volksgruppe der Sakalava geschützt werden. Die Menschen in den Dörfern Kiboy und Tsianaloka verteidigen ihren Wald engagiert gegen Eindringlinge, die dem Wald schaden oder Wildtiere entnehmen – auch mit bloßen Händen, wenn es sein muss. Sie sind unsere besten Verbündeten, der Schutz der Biodiversität in den ihnen unterstellten Waldgebieten, in der eine nachhaltige Nutzung erlaubt ist, funktioniert tatsächlich besser als in der staatlich verwalteten Kernzone des Schutzgebietes. Wenn wir diese Menschen unterstützen, haben die Tiere eine echte Chance.
Was wäre Ihr Wunsch für die Zukunft?
Dass wir als Forschende Verantwortung übernehmen – über Daten und Erkenntnisse hinaus. Naturschutz funktioniert nur mit den Menschen vor Ort. Das LIB hat eine viel breitere Perspektive als klassische Primatenforschung. Wir können Biodiversitätswandel in sozialen Räumen erforschen – und so nachhaltige Lösungen mitgestalten. Dafür lohnt sich jeder Aufwand im Feld.