In der Biologie galt eine These lange als unumstößlich: Tiere paaren sich primär, um sich fortzupflanzen – möglichst heterosexuell, männlich-dominant, weiblich-passiv. Bildet dieses Weltbild wirklich die Natur wertfrei ab oder ist es durch die vorherrschenden sozialen Konstrukte und Vorurteile beeinflusst? Eine Spurensuche mit Prof. Dr. Mariella Herberstein, Leiterin des Hamburger LIB-Standorts.
Vielfalt ist in der Tierwelt keine Ausnahme, sondern die Regel. Auch in den Sammlungen am LIB finden sich dafür zahlreiche Beispiele: Männchen, die den Nachwuchs austragen; gleichgeschlechtliche Eltern in der Kinderstube; große starke Weibchen, die kleinere schwächere Männchen dominieren. Verhaltensweisen, die erst seit wenigen Jahren ernst genommen werden, ohne sie als „unnütz“ oder gar „unnatürlich“ abzustempeln. „Auch, wenn Forschende sich immer um Objektivität bemühen, kann kein Mensch ganz und gar seinem Wertekanon entfliehen – ist von der eigenen Lebensweise und dem Umfeld stark geprägt“, so Herberstein.
Ein Beispiel dafür sei eine der wohl größten Koryphäen der biologischen Forschung: Charles Darwin. Im späten 19. Jahrhundert schrieb er den Männchen und Weibchen in der Tierwelt klare Rollen zu: Während Männchen aktiv, dominant und polygam seien, wären Weibchen passiv, schüchtern und monogam. Ein Weltbild, das sich fast ein ganzes Jahrhundert hielt, bis ab den 1970er Jahren Forschende wie Geoff Parker zeigten: bei vielen Tierarten paaren sich Weibchen mit mehreren Männchen, teils gezielt – ein Verhalten, das zuvor meist als „unnatürlich“ oder „unweiblich“ galt.
Ein Beispiel aus unserer Sammlung ist hierfür die Schwarze Witwe (Gattung Latrodectus). Hier bestimmt das Weibchen nicht nur dominant das Paarungsverhalten, sondern frisst das Männchen gelegentlich auch danach auf. Die Männchen nehmen dieses Risiko in Kauf und investieren all ihre Fortpflanzungschancen in eine einzige Paarung. Andere Spinnen, wie die Listige Jagdspinne (Dolomedes fimbriatus), können zudem gezielt steuern, welche Spermien zur Befruchtung kommen. Forschende interpretieren das Verhalten so, dass diese Spinnenweibchen nicht nur Dominanz ausstrahlen, sondern auch die Genetik ihres Nachwuchses aktiv kontrollieren. „Kryptische weibliche Wahl“ wird diese sexuelle Selektion genannt, die erst seit den 1990er Jahren in den Fachkreisen der Biologie zirkuliert. Zuvor wurde lange angenommen, dass die sexuelle Selektion mit der Paarung endet. „Bezeichnungen wie „Schwarze Witwe“ oder „Listige Jagdspinne“ zeigen, wie kulturelle Vorstellungen die biologische Sprache prägen. Weibliche Kontrolle oder Dominanz wird dabei oft als bedrohlich oder manipulativ beschrieben. Solche Begriffe spiegeln nicht nur tierisches Verhalten, sondern auch den männlich geprägten Blick vieler Forschenden – ein Beispiel für den sogenannten ‚androzentrischen‘ Blick in der Biologie“, fasst Mariella Herberstein zusammen.
Seepferdchen (Gattung Hippocampus) stellen „traditionelle“ Geschlechterthesen der Biologie völlig auf den Kopf: Männlich heißt hier nicht gleich „zeugend“ und weiblich nicht gleich „gebärend“ – sondern das genaue Gegenteil. Weibchen legen ihre Eier in die Brusttasche des Männchens, der sie dort selbst befruchtet und – je nach Art – zehn bis 25 Tage austrägt. Schließlich gebären sie dann voll entwickelte Jungtiere durch kräftige Muskelkontraktionen. Anhand dieses Beispiels macht Herberstein deutlich: „Geschlechterrollen basieren oft auf kulturellen, menschengemachten Konstrukten, und manche Forschende unternehmen außergewöhnliche Anstrengungen, um das beobachtete Verhalten in diese Stereotypen zu pressen.“
Ist der Nachwuchs dann im Nest, zeigen uns Vögel wie divers die Zusammensetzung der Elternteile in der Tierwelt sein kann: Roy und Silo, zwei männliche Zügelpinguine (Pygoscelis antarcticus), bildeten 1998 im New Yorker Zoo ein Paar. Sie balzten, bauten gemeinsam ein Nest und begannen zunächst einen Stein auszubrüten. Nachdem Tierpfleger den Stein durch ein verwaistes Ei ersetzen, zogen sie das Küken erfolgreich groß. Weitere Beispiele gab es auch unter Königspinguinen (Aptenodytes patagonicus) in einem Berliner Zoo 2019 oder unter Adeliepinguinen (Pygoscelis adeliae), die in der freien Wildbahn der Antarktis beobachtet wurden. „Diese Beobachtungen zeigen, dass soziale Elternschaft vom Geschlecht entkoppelt sein kann und liefert Argumente gegen die Vorstellung, dass „natürliche“ Fortpflanzung immer heterosexuell oder zweigeschlechtlich ablaufen muss“, resümiert die Leiterin des Zentrums für Taxonomie und Morphologie am LIB.
Die Biologie habe lange ein verzerrtes Bild der Tierwelt gezeichnet – geprägt von kulturellen Annahmen über Geschlecht, Sexualität und Fortpflanzung. Doch die Natur sei nicht normativ: Sie kenne gleichgeschlechtliches Verhalten, Geschlechtervielfalt, soziale Elternschaft und dominante Weibchen. Queere Perspektiven in der Biodiversitätsforschung eröffnen neue Fragen, fördern differenzierte Betrachtungen und leisten einen Beitrag zu einer inklusiveren Wissenschaft. Für die Zukunft fordert Herberstein deshalb: „Wer Vielfalt schützen will, muss sie auch in ihren Formen und Beziehungen anerkennen – jenseits menschlicher Normvorstellungen. Natur ist vielfältiger, als wir lange dachten. Zeit, dass auch unsere Forschung das widerspiegelt.“
#QueereTiere in der Hamburger Sammlung
Hier zu sehen: wohlmöglich eine ganz neue Art einer Schwarzen Witwe (Latrodectus sp.) - gefunden in Ecuador.#QueereTiere in der Hamburger Sammlung
Seepferdchen (Gattung Hippocampus) gibt es bei uns in vielen verschiedenen Formen und Farben, die in Ethanol gelagert werden.#QueereTiere in der Hamburger Sammlung
Zügelpinguine (Pygoscelis antarcticus) finden sich auch bei uns in der Vogelsammlung am Museum der Natur Hamburg.