Versteckt in den abgelegenen Tafelbergen in Ecuador stießen Forschende des LIB auf eine kleine Vogelspinne, die sich deutlich von allen bisher bekannten Arten unterschied. Was als Expedition im Jahr 2024 zu einem kaum erforschten Hochplateau begann, entwickelte sich zu einem wissenschaftlichen Highlight: Die gefundene Vogelspinne war so ungewöhnlich in ihrer Morphologie, dass sie nicht nur als neue Art, sondern als Vertreterin einer bislang unbekannten Gattung beschrieben wurde – endemisch in dieser einzigartigen Region. Nadine Dupérré, Technische Angestellte am Museum der Natur Hamburg, hat das Tier entdeckt und zeigt uns an diesem Beispiel, wie ein Schatz in unsere Sammlung gelangt.
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Eine Spinne mit außergewöhnlichen Merkmalen – und einer Geschichte
Die Tiere wurden mit Bodenfallen oder von Hand gesammelt – an Felsvorsprüngen im Wald. „Besonders auffällig war das Männchen: Es besaß an seinen Kieferklauen (Cheliceren) große, zangenartige Fortsätze – eine Struktur, die in dieser Spinnenfamilie bisher nie beobachtet wurde. Dieses morphologische Merkmal war so einzigartig, dass wir eine neue Gattung definieren mussten“, erinnert sich Dupérré. Die Spinnwarzen beider Geschlechter weisen ebenfalls segmentierte Strukturen auf, die die Mitglieder dieser Familie deutlich von allen anderen Gruppen unterscheiden. „Segmentiert“ bedeutet in diesem Fall, dass die Spinnwarzen aus mehreren hintereinander angeordneten Gliedern oder Abschnitten bestehen – wie bei einem Teleskop oder bei Insektenbeinen. Das ist nicht bei allen Spinnen der Fall – viele haben unsegmentierte, einfache Spinnwarzen.
Die Entdeckung unterstreicht die außergewöhnliche Artenvielfalt der Tepui-Region, die zwar eine ähnliche Pflanzenzusammensetzung wie das Guayana-Hochland aufweist, aber eine völlig eigenständige Evolutionsgeschichte besitzt. Die Forschenden vermuten, dass sie auf der Expedition Hunderte weiterer potenziell neuer Arten gesammelt haben.
Die neue Art gehört zur Gruppe der Mygalomorphae, also jenen Spinnen, zu denen auch Vogelspinnen zählen. Sie ist relativ klein, aber äußerst bemerkenswert. Die Tiere leben in selbst gewebten Wohnröhren, die sie zwischen Felsen oder auf freiliegenden Gesteinsflächen im Wald anlegen.
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Vom Lebensraum in die Sammlung: der Weg der Spinne
Zurück am Museum begann die eigentliche wissenschaftliche Arbeit. Zunächst wurden hunderte Proben von Spinnen nach äußeren Merkmalen sortiert. Bevor die genaue Analyse beginnt, werden die Geschlechtsorgane – bei Spinnen oft das wichtigste Unterscheidungsmerkmal – mit existierenden Beschreibungen verglichen. Die Datenbank des „World Spider Catalog“ hilft den Forschenden dabei, bekannte Arten systematisch auszuschließen. Schließlich stand fest: Diese Spinne gehört zu keiner bekannten Art – und passt auch in keine bestehende Gattung. Es ist ein echter Neufund.
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Jetzt fehlt nur noch ein passender Name: Dazu muss die Spinne zunächst in einer wissenschaftlichen Publikation erscheinen, um offiziell gekennzeichnet und in die Sammlung aufgenommen zu werden. Wenn es sich, wie bei unserem Schatz des Monats, um eine völlig neue Art handelt, wandert ein sogenannter „Holotyp“ in die Sammlung. Nadine Dupérré und ihr Team schlagen den Namen Tepuithele nangaritza vor, der sowohl Tepui als auch Nangaritza, also die Namen der Orte und Regionen, an denen die Art gesammelt wurde, einschließt.
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Bevor ein Objekt Teil der Sammlung wird, durchläuft es einen sorgfältigen Vorbereitungsprozess. Um ihre feinen Strukturen zu erhalten, wird die Spinne in 70-prozentigem Ethanol konserviert. Die Beschriftung erfolgt auf speziellem Archivpapier, das jahrzehntelanger Lagerung in Alkohol standhält. Alle Daten – Fundort, Datum, Sammelgenehmigung, beteiligte Personen – werden in die digitale Sammlungsdatenbank eingepflegt, damit sie Forschenden weltweit für Studien zur Verfügung stehen.
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Vom Fund zur Verantwortung
In der biologischen Systematik ist die Benennung eines sogenannten Holotyps – eines einzelnen Exemplars, das stellvertretend für eine neu beschriebene Art steht – ein zentraler Schritt. Gemäß den Vorschriften Ecuadors wird der Holotyp im Herkunftsland archiviert, während sogenannte Paratypen (weitere Exemplare derselben Art) in unserer Sammlung verbleiben. Doch die Bedeutung dieses Fundes geht weit über die Taxonomie hinaus. Der Lebensraum dieser Spinne ist akut durch Bergbauaktivitäten bedroht. „Es war erschütternd“, erinnert sich Nadine Dupérré. „Die Flüsse und Wälder sind zerstört. Wenn dieses Habitat verloren geht, verschwindet auch die Art – und mit ihr ihre gesamte evolutionäre Geschichte.“
Wissenschaftliche Sammlungen fungieren in solchen Fällen als Zeitkapseln: Sie bewahren Organismen, ihre genetischen Informationen und ihre ökologischen Kontexte für die Zukunft. Diese Form der Dokumentation kann – insbesondere in Zusammenarbeit mit lokalen Gemeinschaften und Stiftungen – konkrete Entscheidungen zum Naturschutz beeinflussen. Dupérré kennt solche Beispiele. In einem früheren Projekt entdeckte ihr LIB-Kollege Elicio Tapia eine längst verloren geglaubte Froschart in Ecuador – durch die Zusammenarbeit mit einer lokalen Stiftung konnte damit ein geplantes Bergbauvorhaben gestoppt werden. Das zeigt: Wissenschaftliche Sammlungen sind nicht nur Archive, sondern können auch Werkzeuge für den Schutz der biologischen Vielfalt sein.
Wissen bewahren – Arten schützen
Mit der Kuration endet der Weg des Objekts noch nicht. Die zugängliche Dokumentation erlaubt anderen Forschenden, die Art genetisch einzuordnen, verwandte Arten zu vergleichen oder das Habitat erneut zu untersuchen. Hinter jedem Objekt in einer naturwissenschaftlichen Sammlung steht ein Prozess – voller Neugier, Sorgfalt und Verantwortung. Nadine Dupérré hat mit ihrer Arbeit dafür gesorgt, dass eine winzige Spinne nicht nur dokumentiert, sondern bewahrt wird. Wer noch mehr über die spannenden Arbeitsprozesse erfahren will, die in unseren Sammlungen stattfinden, kann sich die aktuelle Sonderausstellung im Museum der Natur Hamburg anschauen: „Menschen machen Museum“ stellt noch bis zum 17. November 2025 unsere Schatzkammern genauer vor.
Alle Sammlungsschritte zum Schatz des Monats hier in der Videozusammenfassung:
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Wissenschaftlicher Kontakt
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