Was die Medizin von Ameisen lernen kann…

© LIB, B. Wipfler

 

Wenn sich Biologie und Technik kreuzen, sprechen wir meist von Bionik. Die Mundwerkzeuge von Ameisen könnten zum Beispiel dabei helfen, die Nadelhalter bei endoskopischen Eingriffen zu verbessern. Dr. Benjamin Wipfler hat mit Kollegen verschiedener Fachrichtungen zu diesem Thema jüngst eine Studie veröffentlicht und in unserem Interview genauer erläutert, worum es dabei geht:

Was ist das Besondere an den Mundwerkzeugen der Roten Waldameise?

Ameisen haben im Gegensatz zu allen anderen geflügelten Insekten Kiefer, die Bewegung im Gelenk zulassen. Wir können es uns wie eine Tür vorstellen: das Türblatt hängt mit zwei Gelenken im Rahmen, wodurch es sich nur auf einer einzigen Bahn bewegen kann. Beim Schließen muss es nicht stabilisiert werden, sondern alle Kraft fließt in den Schließvorgang. Bei den Ameisen ist im übertragenen Sinne eines der Gelenke der Tür teilweise ausgehängt und erlaubt infolgedessen Spiel. Wenn man die Tür jetzt schließen will, wird es viel komplizierter und kraftaufwändiger. Ich muss das Türblatt von mehreren Seiten stabilisieren und führen, damit es genau in der richtigen Position im Rahmen ankommt. Ein schnelles Zuwerfen wird unmöglich.

Wie verschafft sie sich mit diesen Eigenschaften einen Vorteil in ihren Lebensräumen?

Wieso die Ameisen dies gemacht haben, wissen wir nicht genau. Es gibt mehrere Hypothesen dazu: Kolleginnen und Kollegen haben 2020 vorgeschlagen, dass dieses Spiel im Gelenk den Ameisen ermöglicht, ihre Eier mit einem sanfteren Griff zu tragen. Vorteilhaft sind auch ein weiterer Öffnungswinkel der Kiefer sowie eine verbesserte Kraftübertragung vom Muskel auf die Kiefer.

Können sie die drei evolutionären Konstruktionsprinzipien erläutern, die Sie aus dem Beißapparat der Ameise abgeleitet haben?

Ergänzend zu dem Kieferprinzip der „ausgehängten Tür“, konnten noch zwei weitere abgeleitet werden: Bei Insekten bewegen sich die Kiefer primär zu den Seiten und nicht Auf und Ab wie bei uns Menschen. Allerdings ist die Achse des Kiefers nicht parallel zu der Kopfachse wie bei uns Menschen, sondern sowohl horizontal als auch vertikal gekippt. Daher öffnen die Kiefer nicht direkt zu den Seiten, sondern eher schräg nach hinten. Wir könnten uns das so vorstellen, als ob die Hauptbewegung des Kauens bei uns Menschen nicht mehr horizontal wäre, sondern eine schräge, vertikale Bewegung von oben-rechts nach unten links. Diese Verschiebung der Achse kennen wir auch von anderen Insekten.

Schließlich ist das dritte Prinzip die Übertragung von Kraft vom Muskel auf die Kiefer. Das ist dasselbe Funktionsprinzip wie bei einer Schere. Je länger der Handgriff und je kürzer die Schneide einer Schere, desto mehr Kraft wird übertragen. Allerdings wird die Bewegung immer langsamer, je weiter die Kraftübertragung durch die Änderung dieser Strecken erhöht wird. Im Insektenkiefer gelten dieselben Prinzipien: Je weiter der Abstand zwischen Muskelansatz und Gelenkachse, desto mehr Kraft wird übertragen. Räuberische Insekten, die weiche Beute jagen, haben meist eine kleinere Kraftübertragung, die aber ein sehr schnelles Schließen erlaubt. Tiere, die sehr harte Dinge wie Samenkapseln zerkauen müssen, setzen eher auf viel Kraft. Durch die Bewegung im Gelenk der Ameise verändert sich die Kraftübertragung während des Schließvorgangs der Kiefer. Im weit geöffneten Zustand wird wenig Kraft übertragen, während der Wert steigt, je weiter die Kiefer schließen. Dies macht insofern Sinn, als dass die meiste Kraft kurz vor dem Schließen beim Zerkauen von harten Dingen gebraucht wird.

Welche Vorteile können hieraus für die medizinische Endoskopie gewonnen werden?

Wir haben diese drei Prinzipien auf einen endoskopischen Nadelhalter übertragen. Dabei handelt es sich um ein stangenartiges Gerät mit kleinen Greifern an der Spitze, mit dem nach einer Operation alle durchgeführten Schnitte im Körper mit Nadel und Faden genäht werden.

Jedes Mal, wenn der Chirurg die Nadel beim Nähen verliert oder diese verrutscht, muss neu gegriffen werden, was aufgrund der schlechten Sicht und des sehr beengten Raumes sehr schwierig ist und zu Komplikationen führen kann. Daher ist ein fester Griff der Nadel sehr wichtig. Gleichzeitig kann der Nadelhalter nicht größer oder breiter und damit effektiver werden, da er immer noch durch die kleinen Eingangslöcher in den Körper passen muss. Wir konnten zeigen, dass sich die Kraftübertragung und damit die Stabilität der Nadel gegen Bewegungen erhöht, wenn wir die drei untersuchten Funktionsprinzipien des Ameisenkiefers auf solche Nadelhalter übertragen.

Wie genau lassen sich diese Eigenschaften auf medizinische Geräte und damit auf Operationen übertragen?

Wir haben dazu drei neue Modelle entworfen, die jeweils eines der drei Prinzipien aufgreifen. Das erste Modell erlaubt Bewegungen im Gelenk: Der Nadelhalter führt nicht nur die klassische Schließbewegung einer Schere durch, sondern wird um eine zusätzliche Vor- und Zurückbewegung ergänzt. Dadurch wird die Nadel im Nadelhalter verklemmt, was für zusätzliche Stabilität sorgt.

Das zweite Modell basiert auf dem Prinzip der gekippten Drehachse: Die Öffnungsbewegung geht demnach nicht mehr nach oben, sondern schräg zur Seite. Die Arme des Nadelhalters agieren wie Türkeile, die die Nadel fixieren.

Das dritte Design hat einen vergrößerten Abstand zwischen dem Ansatz des Kraftzuges und der Drehachse, wodurch sich die Kraftübertragung stark erhöht. Dies war besonders knifflig, da wir dies ohne eine Verbreiterung des ganzen Halters erreichen mussten. Letztendlich haben wir es so gelöst, dass wir den klassischen Bolzen, der die beiden Teile einer Schere zusammenhält durch eine abgerundete Führungsschiene ersetzt haben, auf der einer der Nadelhalterarme in einer Kreisbewegung geführt wird. Dadurch wird die Gelenkachse auf einen virtuellen Punkt außerhalb des eigentlichen Nadelhalters projiziert, wodurch wir den Vorteil der höheren Kraftübertragung ohne eine Verbreitung des Nadelhalters erzielen konnten. Wir konnten zeigen, dass diese drei neu entwickelten Modelle, etwa zwei bis dreimal so effektiv wie das kommerzielle Ausgangsmodel sind, wenn es darum geht Drehungen und Bewegungen der Nadel im Halter zu verhindern.

Welche Disziplinen sind in das Projekt eingeflossen und wie haben sie zusammengearbeitet?

Unsere wichtigste Ressource war ein extrem interdisziplinäres Team. Es bestand aus Chirurgen und Ärzten des Universitätsklinikums Brandenburg, aus Maschinenbauern der Universität Bayreuth, einem Funktionsmorphologen aus Greifwald und mir als Evolutionsbiologen. Diese extreme Vielseitigkeit im Team, die unterschiedlichen Denkmuster und Herangehensweisen haben uns wirklich geholfen.

Wie geht es jetzt weiter?

Ameisenkiefer sind ein gutes Vorbild für Greifwerkzeuge in beengten Räumen. Prinzipiell ließen sich mit den von uns gezeigten Prinzipien noch effektivere Modelle entwerfen oder es besteht auch die Möglichkeit, die drei Ansätze miteinander zu kombinieren. Natürlich müssen die neuen Modelle explizit auf ihre Anwendung getestet werden. Wir würden uns freuen, wenn jemand die von unsere Ansätze aufgreift und ein fertiges Produkt entwickelt. Das Projekt hat so viele neue spannende Fragen über Insektenkiefer und deren Bewegung und Funktion aufgeworfen, dass ich noch eine ganze Weile an ihnen weiterarbeiten werde.

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