Vom Wissen zum Handeln: „10 Must-Knows“ als Wegweiser für den Erhalt der Biodiversität in Deutschland

Die Autorinnen und Autoren der 10 Must Knows geben praktische Empfehlungen für die Politik und zeigen mit konkreten Handlungsoptionen für die Gesellschaft, was Bürgerinnen und Bürger tun können.
© Leibniz-Biodiversität

 

Von der noch unentdeckten Artenvielfalt über widerstandsfähige Wälder bis zu den Auswirkungen des Lebensmittelkonsums auf die Natur: 64 Expertinnen und Experten, darunter fünf des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB), haben jetzt ihr Wissen und ihre Empfehlungen gebündelt und in Form von „10 Must-Knows aus der Biodiversitätsforschung“ für 2024 veröffentlicht.

Der neue Bericht des Leibniz-Forschungsnetzwerks Biodiversität zeigt Politik und Gesellschaft konkrete Wege auf, wie die biologische Vielfalt in Deutschland auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene wirksam erhalten und nachhaltig genutzt werden kann, und wie sich dadurch zugleich das Klima schützen lässt. Mit der Veröffentlichung steuern die Forschenden aktuelle, wissenschaftliche Fakten zur Debatte um die nationale Biodiversitätsstrategie bei, die noch vor der nächsten Weltnaturkonferenz im Herbst 2024 verabschiedet werden soll.

„Wir freuen uns, dass wir mit unserem Expertenwissen im LIB zu den 10 Must Knows beitragen konnten“, betont Prof. Dr. Bernhard Misof, Generaldirektor des LIB. „Die Biodiversität dieser Erde liefert die unverzichtbare Grundlage für das Funktionieren der Ökosysteme und damit auch für unsere Gesundheit und Ernährung. Viele unserer Forschungsprojekte am LIB liefern Grundlagenwissen zum Leben auf dieser Erde und skizzieren Lösungswege aus der Biodiversitätskrise. Dazu gehört es auch, dass wir das Gespräch über den Umgang mit den Ressourcen der Natur mit Wirtschaft, Politik und Gesellschaft suchen. Trotz Forschung und Wissenstransfer klafft immer noch eine große Lücke zwischen Wissen und Handeln. Hier setzen die 10 Must Knows an und versuchen wichtige Impulse für die globale Gemeinschaft zu setzen.“

Prof. Dr. Christoph Scherber, Stellvertretender Direktor des LIB und Koautor der Must-Knows betont: „Der wahre Reichtum der Erde ist seine unermessliche biologische Vielfalt. Doch es scheint, als ob wir Menschen zu kurzatmig, zu kurzsichtig wären, um mit diesem Schatz sorgsam umzugehen. Viele kennen den Aktienmarkt besser als das Arten-Portfolio, das die Natur uns bietet. Es ist an der Zeit, Natur-Kenntnis für uns alle zum Bildungsziel zu machen – für eine biodiversitäts-freundliche Welt von morgen.“

Nach der großen Resonanz auf die 2022 erstmals veröffentlichten „10 Must-Knows aus der Biodiversitätsforschung“ haben jetzt Forschende aus insgesamt 57 deutschen und internationalen Forschungseinrichtungen ihre Expertise aus den Umwelt-, Lebens-, Raum-, Sozial-, Geistes- und Wirtschaftswissenschaften in die Neufassung eingebracht. „Unsere Empfehlungen bündeln die heute verfügbaren Forschungserkenntnisse für Entscheiderinnen und Entscheider. Die Must-Knows sollen ihnen Orientierungswissen an die Hand geben, um die global beschlossenen Biodiversitätsziele im deutschen Kontext umsetzen zu können“, sagt Autorin Dr. Sibylle Schroer vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB).

Geballtes Biodiversitätswissen von 64 Fachleuten quer durch die Disziplinen

Um die 23 Biodiversitätsziele umzusetzen, auf die sich im Dezember 2022 auf der Weltnaturkonferenz die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen geeinigt hatten, wird zurzeit die Nationale Biodiversitätsstrategie 2030 erarbeitet. Um hierfür aktuelle Fakten aus der Wissenschaft zu liefern, wurde die erste Fassung der „10 Must-Knows“ von 2022 um zahlreiche Aspekte erweitert und mit Hilfe aktueller Literatur auf den neuesten Stand gebracht. Der jetzt veröffentlichte Bericht geht etwa darauf ein, wie die Auswirkungen des Lebensmittelkonsums auf die Biodiversität konkret verringert werden können. Die Autorinnen und Autoren geben praktische Empfehlungen für die Politik und zeigen mit konkreten Handlungsoptionen für die Gesellschaft, was Bürgerinnen und Bürger tun können.

„Bereits heute überschreiten wir planetare Belastungsgrenzen, sowohl bei der globalen Erwärmung als auch beim Verlust biologischer Vielfalt. Um diesen Krisen zu begegnen, braucht es gemeinsame Antworten. Wir wissen, dass der Schutz der Biodiversität wesentlich dazu beitragen kann, den Klimawandel abzuschwächen, etwa durch artenreiche Wälder und wiedervernässte Moore, die Kohlenstoff speichern. Nur wenn Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität stärker in den Fokus rücken, kann es gelingen, gegen beide Krisen zugleich vorzugehen“, sagt Dr. Kirsten Thonicke, Leitautorin und stellvertretende Abteilungsleiterin am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), die das Forschungsnetzwerk koordiniert.

Die BMBF-Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA) und das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig wirkten als Kooperationspartner an dem Projekt mit. Die „10 Must-Knows“ wurden vor der Veröffentlichung von Gutachterinnen und Gutachtern aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Verbänden kommentiert.

Zu den 10 Must-Knows: https://doi.org/10.5281/zenodo.10794362

Zum Leibniz-Forschungsnetzwerk Biodiversität: https://www.leibniz-biodiversitaet.de/

Beim Klimawandel und Biodiversitätsverlust handelt es sich um eine Doppelkrise. Das heißt, beide Krisen müssen gemeinsam bewältigt werden. Und das funktioniere am besten, wenn die Maßnahmen zum Schutz der biologischen Vielfalt den Ausgangspunkt bilden, heißt es im Bericht. Erhält man die Biodiversität, rettet man auch das Klima – so die Idee. Das Hauptaugenmerk sollte aus Sicht der Forschenden auf den Mooren liegen. Mehr als 90 Prozent davon sind in Deutschland entwässert. Das Problem ist: Trockengelegte Moore sind CO₂-Schleudern. Allein im Jahr 2021 entfielen auf sie knapp 54 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente – das sind rund 7 Prozent aller Emissionen in Deutschland, wie das Umweltbundesamt ausgerechnet hat.

© Leibniz-Forschungsnetzwerk Biodiversität

Nicht nur der Klimawandel, auch die Biodiversitätskrise macht krank. Dadurch dass die Tiere immer mehr Lebensräume verlieren, rücken sie dichter an die Städte heran – und damit an den Menschen. Zoonosen, also Krankheiten, die von Tieren auf den Menschen übertragen werden, werden wahrscheinlicher. Die Forschenden sprechen sich für einen One-Health-Ansatz aus – also die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt zusammen zu betrachten. Denn gesunde Ökosysteme bedeuten gesunde Tiere und gesunde Menschen.

© Leibniz-Forschungsnetzwerk Biodiversität

Die Forschenden sprechen sich für einen One-Health-Ansatz aus – also die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt zusammen zu betrachten. Denn gesunde Ökosysteme bedeuten gesunde Tiere und gesunde Menschen.

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Die meisten Arten kommen in Gebieten vor, in denen indigene Völker und lokale Gemeinschaften leben. Allerdings werden diese Gruppen oft nicht in politische Entscheidungen mit einbezogen, zum Beispiel wenn es darum geht, Klimaschutzmaßnahmen festzulegen. Dabei verfügen sie über eine große Ökokompetenz, wie der Bericht herausstellt. Das heißt, sie wissen viel über Ökosysteme und wie man diese schützt – und dieses Wissen wird von Generation zu Generation weitergegeben.

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Wälder sind wie Moore und Meere wichtige CO₂-Speicher. Mehrere Milliarden Tonnen des Treibhausgases speichern sie jedes Jahr. Doch ein Großteil der Wälder ist inzwischen so geschädigt, dass er anfällig für Krankheiten und den Klimawandel ist. Das liegt unter anderem an der Forstwirtschaft: Der Bedarf an Holz steigt, sodass mehr Wälder abgeholzt werden. Gleichzeitig sind über die vergangenen Jahre Monokulturen entstanden – also etwa reine Fichtenwälder oder reine Buchenwälder –, was es für Krankheiten und Schädlinge wie den Borkenkäfer einfacher macht, sich zu verbreiten. Die globale Erwärmung, die dafür sorgt, dass Böden austrocknen, setzt den Pflanzen zusätzlich zu.

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„Landwirtinnen und Landwirte sind Schlüsselakteure beim Schutz von Biodiversität und Klima“, betont der Bericht. Etwa die Hälfte der Fläche Deutschlands wird landwirtschaftlich genutzt – allerdings nicht immer nachhaltig bewirtschaftet. Die Landwirtschaft ist in gewisser Weise zwiegespalten: Einerseits muss sie mehr Pflanzen anbauen, mehr Tiere züchten und halten, um den Bedarf an Nahrungsmitteln einer Weltbevölkerung zu decken, die immer weiter wächst. Das führt jedoch andererseits dazu, dass mehr Böden unfruchtbar werden (weil sie überbeansprucht und überdüngt werden), sich Krankheiten und Schädlinge in Monokulturen besser ausbreiten können und Lebewesen Ackerflächen weichen müssen. Die Artenvielfalt geht verloren.

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Täglich werden in Deutschland circa 60 Hektar an neuen Siedlungs- und Verkehrsflächen ausgewiesen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Immer mehr unberührte Natur muss Straßen und Häusern weichen. „Die Böden können ihre grundlegenden Funktionen nicht mehr erfüllen, ihre Ökosystemleistungen gehen verloren, und Lebensräume verschwinden“, erklärt Barbara Warner von der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft. „Schutz, Entwicklung und Wiederherstellung der biologischen Vielfalt müssen auf allen politischen und planerischen Ebenen zentrale Berücksichtigung finden. Das gilt für internationale Vorhaben ebenso wie für die regionale und kommunale Planung.“

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Die Biodiversitätskrise zu stoppen funktioniert nur, wenn Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenarbeiten. Zum Beispiel wenn es darum geht, Ungerechtigkeiten zu beseitigen. So sind es vor allem Länder mit niedrigem Einkommen, die am stärksten unter der Biodiversitätskrise leiden, aber nicht genug Geld haben, um aktiv dagegen vorzugehen.

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Daten zu Ökosystemen und Lebewesen sind wichtig, um zu verstehen, wie weit die Biodiversitätskrise inzwischen fortgeschritten ist. Doch genau diese Daten stellen zurzeit das größte Problem dar: Sie seien unzureichend, nicht frei verfügbar oder nur eingeschränkt nutzbar, monieren die Autorinnen und Autoren des Berichts. Sie fordern politische Rahmenbedingungen, die internationale Datenbanken öffentlich zugänglich machen, in denen Informationen etwa über das Erbgut von Tieren und Pflanzen gespeichert sind. Außerdem sprechen sie sich dafür aus, neue Technologien wie Künstliche Intelligenz zu nutzen, um in Zukunft Daten zu erheben.

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So wie der Mensch heute isst, schadet er den Ökosystemen massiv. Vor allem der hohe Fleischkonsum ist problematisch: Tierische Produkte sind für 69 Prozent der Treibhausgasemissionen, 75 Prozent des Flächenverbrauchs und 77 Prozent des Biodiversitätsverlusts verantwortlich. Die Forscherinnen und Forscher empfehlen deshalb eine pflanzlichere Ernährung – und so wenig Lebensmittel wie möglich wegzuwerfen.

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