Kinofilm als Zeitdokument: Sammler Mahrt und sein Natur-Vermächtnis
Jürgen Friedrich Mahrt hat vor 100 Jahren das Insektensterben beobachtet und die Ursachen für den Wandel der Biodiversität bereits erkannt. © Sönje Storm / Stormfilm
Ein Sammler, der seiner Zeit voraus war. Ein Vermächtnis, das die Veränderungen einer Naturlandschaft dokumentiert. Nun bringt die Urenkelin die Geschichte dieses ungewöhnlichen Norddeutschen ins Kino – und seine Sammlung ins Museum. Jürgen Friedrich Mahrt hat vor 100 Jahren das Insektensterben beobachtet und die Ursachen für den Wandel der Biodiversität bereits erkannt.
Der Dokumentarfilm der Journalistin und Regisseurin Sönje Storm „Die toten Vögel sind oben“ erzählt von der Schönheit der Natur und ihrem Wandel. Er ist am 5. November bei den Nordischen Filmtagen Lübeck zu sehen. Auf dem DOK Leipzig gewann das poetische Zeitdokument gerade den deutschen Wettbewerb. Die 80 bis 100 Jahre alten Präparate von annähernd 350 Vögel, 3000 Schmetterlingen, Käfern und Wanzen hat das Museum der Natur Hamburg des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) aufgenommen.
Hier werten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Sammlungen Jürgen Friedrich Mahrts als naturschutzrelevante Datensätze aus. Ein Drittel der Schmetterlingsarten, die der Bauer zwischen 1909 bis 1940 in Schleswig-Holstein sammelte, präparierte und etikettierte, gelten in großen Teilen Schleswig-Holsteins heute als gefährdet oder sogar ausgestorben. Vor 100 Jahren waren sie, wie zum Beispiel Arten des Scheckenfalters, in dieser Gegend noch verbreitet.
Dokumentationen aus der Frühzeit des Anthropozäns
„Mahrt hat die Schmetterlings-Fauna dieses Gebietes vor 100 Jahren relativ genau dokumentiert und damit die Verbreitung von Arten belegt, bevor der Mensch diese Lebensräume verändert und zerstört hat, zum Beispiel durch die Trockenlegung von Mooren und die landwirtschaftliche Über-Nutzung“, hebt Dr. habil. Martin Husemann, Insektenforscher und Leiter der Sektion Hemimetabola & Hymenoptera am Museum der Natur Hamburg des LIB, hervor. „Wir können gut nachvollziehen, welche Arten verschwunden sind. Die Sammlung ist ein Datensatz, aus dem wir wichtige Erkenntnisse zum Artenschwund ziehen können. Wir haben jetzt einen Punkt mehr auf der Karte und können damit Modellierungen zum Artenverlust verbessern.“ Die Schmetterlingssammlung Mahrts ist für das Museum als Einheit bedeutend und wird als solche in die Sammlung des LIB integriert.
Mahrt war Autodidakt, ein Bürgerwissenschaftler par exellence. Und er war obsessiv; über seine Sammlerleidenschaft vernachlässigte er Haus und Hof – wie Regisseurin Storm in ihrem Film erzählt. Mahrt hat schon 1919 festgestellt, dass es Vögel, die er aus seiner Kindheit noch kannte, in seiner Zeit als Erwachsener nicht mehr gab. Er schrieb Tagebücher mit Naturbeobachtungen und korrespondierte mit anderen Wissenschaftlern. Vögel beobachtete er so genau, dass er ihre Bewegungen in Präparaten naturnah festhalten könnte. Der gelernte Fotograf machte Bilder in der Frühzeit des Anthropozäns und dokumentierte Ursachen unserer Klimaprobleme. 1928 eröffnete er in seinem Bauernhaus ein kleines Naturkundemuseum. „Frappierend war für mich bei der Arbeit mit seinem Nachlass zu merken, dass ihn vor 100 Jahren eigentlich schon ähnliche Fragestellungen umgetrieben haben wie uns heute“, so Filmemacherin Storm.
Fast vergessen lagen die Sammlungen Mahrts Jahrzehnte auf dem Dachboden eines alten Bauernhofes. Als Sönje Storm Wissenschaftler und Präparatoren des Museums der Natur zur Begutachtung hinzuzog, entwickelte sich die Idee, den Schatz der Forschung und Öffentlichkeit zu überlassen.
Matthias Preuss, seit 40 Jahren Präparator im Museum der Natur Hamburg (früher Zoologisches Museum), hat der Anblick der Vögel fast die Tränen in die Augen getrieben. „Wo sind sie geblieben?“ fragte er sich. „Heute bekommen wir viele dieser Vögel gar nicht mehr zu sehen.“ Einerseits schockiert über den Zustand der Präparate auf dem Dachboden, andererseits begeistert von der Schönheit und der Vielfalt der Objekte, war für ihn schnell klar: „Diese Objekte haben Ausstellungspotential. Das ist ein toller Fundus, aus dem wir schöpfen können.“ Auch wenn die Vogelpräparate weniger forschungsrelevant sind, weil es kaum Informationen zu ihnen gibt und es sich in vielen Fällen um Irrgäste aus dem Süden oder Kuriositäten wie Albinos handelt, bleiben sie perspektivisch für die Ausstellung und Vermittlungsarbeit interessant.
Überlassungen von Privatsammlern
Sammlungen wie die von Mahrt sind für Museen extrem wertvoll. Allein in den vergangenen fünf Jahren ist die Insektensammlung im Museum der Natur Hamburg durch die Überlassung von Privatsammlungen um eine Million auf etwa fünf Millionen Objekte gewachsen. Darunter sind unter vielen anderen die wertvollen Käfer-Sammlungen von Thomas Schmidt und Manfred Zeising, Mitglieder des Naturwissenschaftlichen Vereins Hamburg.
Derzeit entschließen sich viele Sammlerinnen und Sammler, ihre Schätze an Museen zu übergeben, damit sie optimal bewahrt und auch erforscht werden – zur Freude der Museen. „Privatsammler besitzen oft ein sehr großes Detailwissen über die Arten einer Region, weil sie sich viel intensiver auf eine Gegend konzentrieren können als Forschende, die häufig auf der ganzen Welt aktiv sind“, weiß Husemann.
Auch wenn die Objekte wegen der Fülle ihrer Metadaten wie Pollen und Parasiten sowie den Möglichkeiten genetischer Analysen nicht durch digitalisierte Objekte ersetzt werden können, profitiert die Wissenschaft heute dennoch von digitalen Plattformen wie der internationalen Seite iNaturalist oder der vom LIB unterstützten auf Norddeutschland konzentrieren Plattform neobiota-nord.de, die sich auf die Beobachtung gebietsfremder Arten spezialisiert hat. Hier können Bürgerinnen und Bürger ihre Beobachtungen hinterlassen und damit die Wissenschaft unterstützen. Martin Husemann: „Dank der Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern können wir viel engmaschiger und auf breiterer Fläche nachvollziehen, welche Arten in einer Region verschwinden und welche hinzukommen. Je mehr Menschen sich beteiligen, desto schärfer wird das Bild.“
Mehr Informationen zur Insektensammlung des Museums der Natur Hamburg:
Entomologie : LIB (leibniz-lib.de)
Weitere Information zum Film inkl. Trailer:
DIE TOTEN VÖGEL SIND OBEN (die-toten-voegel-sind-oben.de)
Regisseurin über „Die toten Vögel sind oben“ | MDR.DE
Kontakt:
Dr. habil. Martin Husemann
Leitung Sektion Hemimetabola & Hymenoptera
Museum der Natur Hamburg
Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB)
M.Husemann@leibniz-lib.de