Frankfurter Erklärung: Gemeinsam für die biologische Vielfalt

Vor dem Weltnaturgipfel in Montreal: Forderung nach einem Schulterschluss von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft für natur-positives Unternehmenshandeln

 

„Naturbasierte Lösungen“ © Senckenberg

 

Eine Woche vor Beginn der 15. Vertragsstaatenkonferenz zur biologischen Vielfalt (CBD COP15) in Montreal fordert ein Bündnis deutscher Wissenschafts- und Nichtregierungsorganisationen in seiner heute veröffentlichten „Frankfurter Erklärung“, das Wirtschaften gegen die Natur zu beenden. Die Organisationen stellen in ihrem Positionspapier Forderungen an die Bundesregierung und die Europäische Union für ein Gelingen des Weltnaturgipfels. Gleichzeitig machen sie konkrete Vorschläge, um eine naturverträgliche Wirtschaft zum Standard zu machen. Dabei bieten sie ihre Expertise zur Lösung der dringendsten Herausforderung der Menschheit an – der „Zwillingskrise“ aus Biodiversitätsverlust und Klimawandel.

Biodiversität – die Vielfalt des Lebens von den Genen über die Arten bis hin zur Vielfalt der Lebensräume – versorgt uns Menschen mit lebenswichtigen Ökosystemleistungen. Die Natur stellt Nahrung und Rohstoffe, sie reguliert das Klima, Stoffkreisläufe sowie Erosion und bietet Raum für Erholung und Bildung. Der volkswirtschaftliche Gesamtwert dieser „Dienstleistungen“ wird auf eine Größenordnung von 170 bis 190 Billionen US-Dollar pro Jahr geschätzt. Das aktuelle Wirtschaftsmodell nimmt diese Leistungen der Natur unbezahlt in Anspruch – mit der Folge von Übernutzung und Vernichtung der natürlichen Ressourcen und somit unserer wichtigsten Lebensgrundlage.

„Die Klimakrise ist wissenschaftlich deutlich besser erforscht als die Krise des Biodiversitätsverlusts. Hier gibt es dringenden Nachholbedarf“, sagt Prof. Jörg Rocholl, Präsident der internationalen Wirtschaftsuniversität ESMT Berlin. „Wie können wir Biodiversitätsverlust bepreisen, wie wir es schon von den CO2-Emissionen kennen? Für solch eine Bewertung fehlt bislang der Konsens, um Unternehmen zum verstärkten Handeln zu motivieren. Wir brauchen die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Naturforschende und Ökonominnen und Ökonomen, um die richtigen und wichtigen Schutzkonzepte zu entwickeln und Kennzahlen an die Übernutzung der Umwelt zu hängen.“

Ein breites Bündnis deutscher Wissenschafts- und Nichtregierungsorganisationen hat es sich daher zum Ziel gesetzt, alle nötigen Voraussetzungen für ein natur-positives Unternehmenshandeln zu schaffen. In der heute veröffentlichten „Frankfurter Erklärung“ ruft es zum Schulterschluss von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit auf und sieht Deutschland dabei in einer Vorreiterrolle. Als viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt hat die Bundesrepublik einen enormen „Biodiversitäts-Fußabdruck“: Die globalen Wertschöpfungsketten deutscher Unternehmen beeinflussen die Natur in erheblichem Maße und tragen vielfach zu ihrer Zerstörung bei. Zudem gebe es kaum ein Land mit mehr wissenschaftlichen Erkenntnissen, flächendeckenden Biodiversitätsdaten und ambitionierten Initiativen zum weltweiten Naturschutz, so die Forschenden in ihrer Erklärung.

Dr. Christof Schenck, Geschäftsführer der Frankfurter Zoologischen Gesellschaft und Träger des Deutschen Umweltpreises 2022: „Wir brauchen dringend eine Trendwende! Nach der ernüchternden Bilanz des soeben zu Ende gegangenen Weltklimagipfels in Sharm-el-Sheikh gilt dies umso mehr für den Weltnaturgipfel in Montreal. Nötig ist eine verbindliche, globale Vereinbarung historischen Ausmaßes zum Schutz der Natur. Sie muss den Rahmen setzen, den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen, mit und nicht gegen die Natur zu wirtschaften und geschädigte Natur wieder herzustellen!“

Das Bündnis erwartet ein verpflichtendes Biodiversitäts-Reporting von Unternehmen als ein konkretes Ergebnis der Konferenz. Die Politik müsse sicherstellen, dass Unternehmen und Finanzinstitutionen ihre Biodiversitäts-Auswirkungen und -Abhängigkeiten messen. Darüber hinaus sollten sie regelmäßig berichten, wie negative Auswirkungen reduziert und positive Effekte entlang der Wertschöpfungsketten ermöglicht werden. Zudem fordern die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einheitliche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen – eine standardisierte, wissenschaftsbasierte Nachhaltigkeitsregulatorik zur Biodiversität. So sollen laut der „Frankfurter Erklärung“ Anreize und Sicherheiten geschaffen sowie „Greenwashing“ verhindert werden. Weitere Punkte des Bündnisses: Entwaldungsfreie Lieferketten und die Aufnahme des Themas Biodiversität in die Innovationsagenda der Bundesregierung.

„Alle umweltschädlichen Subventionen müssen bis spätestens 2030 abgebaut sein! Bestehende finanzielle Anreize, Steuern und Subventionen müssen so reformiert und umgewidmet werden, dass öffentliche und private Finanzströme auf naturverträgliche Aktivitäten ausgerichtet werden. Das schafft einheitliche Spielregeln für die Wirtschaft und vermeidet Marktverzerrungen. Wir können diese notwendigen Umwidmungen wissenschaftsbasiert und mit konkreten Empfehlungen benennen“, so die drei Generaldirektoren der Leibniz-Naturforschungsmuseen Prof. Dr. Klement Tockner (Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung), Prof. Dr. Johannes Vogel (Museum für Naturkunde Berlin) und Prof. Dr. Bernhard Misof (Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels).

Auch in weiteren Punkten bieten die Forschenden ihre Expertise an: „Wir werden die Erarbeitung geeigneter und einheitlicher Biodiversitäts-Metriken massiv unterstützen. Gemeinsam treiben wir außerdem den Aufbau eines globalen Biodiversitäts-Datensatzes voran und machen diesen öffentlich zugänglich. Dazu kombinieren wir die Datenschätze der internationalen Biodiversitätsforschung, verwenden bestehende Instrumente zur Erfassung der Biodiversität in Echtzeit, entwickeln diese zügig weiter und streben einen „digitalen Zwilling der gelebten Welt“ an. Eine ‚Best-practice‘-Plattform für natur-positives Handeln setzt zudem die erforderlichen Vergleichsmaßstäbe. Es ist aber klar: Wenn wir jetzt nicht eine grundlegende Veränderung hin zu einer natur-positiven Wirtschaft vollziehen, dann wird das Anthropozän – das Zeitalter des Menschen – zur kürzesten Epoche der Erdgeschichte! Und das gilt es zu verhindern, dafür setzen wir uns gemeinsam mit Nachdruck ein“, so Tockner.

Zu den Erstunterzeichnenden der „Frankfurter Erklärung“ gehören neben den im Text genannten, u.a. Prof. Dr. Jan Pieter Krahnen (Leibniz Institute for Financial Research SAFE), Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese (Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt und Umweltpreisträgerin 2021), Prof. Dr. Josef Settele (Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung), Prof. Dr. Volker Mosbrugger (BMBF-Initiative zum Erhalt der Artenvielfalt, Polytechnische Gesellschaft e.V.), Dr. Georg Schwede (Campaign for Nature) und Dr. Tobias Raffel (FUTURE Institute for Sustainable Transformation).

 

Frankfurter Erklärung und der Liste der Unterstützerinnen und Unterstützern.

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