Gesichter des LIB: Heike Wägele

„Man lernt als Wissenschaftlerin eben nie aus und muss immer offen für andere Disziplinen sein, die den Horizont erweitern können.“

©LIB, Heine

 

„Stell dir vor, du bist nackt, ganz ohne Schutz. Wie kannst du dich vor einem Tyrannosaurus schützen? Wegrennen, giftig werden oder brennen wie eine Kerze, sobald man dich berührt?“ So würde Heike Wägele einem elfjährigen Kind erklären, woran sie im Museum Koenig Bonn forscht. Sie ist Leiterin der Sektion Phylogenetik und Evolutionsbiologie und erforscht die Biodiversität von Hinterkiemerschnecken und deren Evolution.

Schnecken, Nacktschnecken, Meeresnacktschnecken – worauf haben Sie sich spezialisiert?

Auf Opisthobranchia. Diese Meeresschnecken weisen eine Vielzahl biologischer Phänomene auf und sind in ihrer Farben- und Formenvielfalt wunderschön. Sie haben im Laufe ihrer evolutionären Entwicklung einige Strategien entwickelt, die fast einmalig im Tierreich sind und sie daher extrem interessant für die Evolutionsforschung machen. Viele Schnecken sind in der Lage, giftige Stoffe, wie zum Beispiel Nesselkapseln aus Quallenverwandten, mit der Nahrung aufzunehmen, die sie im Bedarfsfall zur Verteidigung einsetzen können. Bei der Erforschung der genetischen Veränderungen beschäftigt mich die Frage: Warum kann man Gift essen? Dem kommen wir zum Beispiel durch die Analyse von Molekülen, die Untersuchung von Struktur und Form der Organismen oder durch die Recherche nach stammesgeschichtlichen Vorläufern auf die Spur.

Welchen Nutzen hat Ihr Forschungsgebiet?

Die Wirkstoffe der Trauer-Sternschnecke zum Schutz vor Fressfeinden werden zum Beispiel auf die pharmazeutische Wirksamkeit gegen Brustkrebs, Hauterkrankungen oder das Wachstum von Tumorzellen untersucht. Ebenso könnten Naturstoffe einmal Antibiotika ersetzen. In einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Projekt zusammen mit der Pharmazeutischen Biologie der Universität Bonn haben wir die Artendiversität von Meeresschnecken in Indonesien untersucht. Wir haben viele neue Arten gefunden, die die Pharmazeuten für die Suche nach neuen medizinischen Wirkstoffen nutzen konnten. Der Nobelpreisträger Eric Kandel erforschte anhand des Nervensystems einer Hinterkiemernacktschnecke, welche Proteine für die Bildung des Kurz- und Langzeitgedächtnisses erforderlich sind und wies ähnliche Mechanismen in den Hirnstämmen des Menschen nach. Diese Entdeckungen sind bedeutsam für das Verständnis der normalen Hirnfunktionen und deren Störungen, bei neurologischen und psychischen Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson. Aber auch die Einlagerung von fremden Organellen oder ganzer Organismen ist für die Erforschung von Symbiosen von großer Bedeutung.

Haben Sie schon mal in die falsche Richtung gedacht und sind einem Irrtum erlegen?

Ja, das passiert bei der Identifikation der Schnecken immer wieder, da diese im Laufe ihrer Entwicklung sehr häufig die Farben verändern. So entpuppte sich eine von mir als Thorunna australis identifizierte, nur wenige Millimeter große, Schnecke als die Spanische Tänzerin (Hexabranchus sanguineus), die bis zu 50 Zentimeter groß werden kann. Es war eine Fehlinterpretation, aufgeklärt durch molekulare Analysen. Manchmal wird man auch durch Kooperationen mit anderen Forschungseinrichtungen wieder „auf den rechten Weg“ gebracht. Man lernt als Wissenschaftlerin eben nie aus und muss immer offen für andere Disziplinen sein, die den Horizont erweitern können.

Worin sehen Sie Ihren größten beruflichen Erfolg?

In dem Einwerben verschiedener Forschungsstipendien bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft und insbesondere in der erfolgreichen Bewerbung auf eine Professur in Marburg, die ich aber damals für die Familie aufgegeben habe. Ich wollte immer forschen. Im Museum Koenig Bonn habe ich eine Heimat gefunden, in dem ich schon früh beides vereinbaren konnte. Ich habe viele Promovierende erfolgreich betreut und eine ziemlich große Arbeitsgruppe mit Studierenden aus den Master- und Bachelorstudiengängen der Universität Bonn geleitet. Gerade deren positives Feedback und das der vielen Mentees, die ich in meiner wissenschaftlichen Laufbahn begleitet habe, hat mir immer gezeigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Ist Ihre Tätigkeit von Anfang an Ihr Traumjob oder hat sie sich dahin entwickelt? Gab es Alternativen?

Mit 13 Jahren fing ich an zu tauchen. Von da an hatte ich eine Vorstellung, wie Biologie aussieht. Das hat mich fasziniert. Nacktschnecken sind kreativ, bunt, filigran und man muss sehr genau hingucken. Ich hatte aber auch schon immer – und bis heute – viel Spaß an handwerklichen Tätigkeiten und hatte mir mal vorgestellt in einem Handarbeitsladen zu arbeiten. Heute betätige ich mich ein bisschen als Schmuckdesignerin und bearbeite noch immer Möbel oder stricke. Kreativität, neue Techniken und die Beschäftigung mit schönen Dingen – das ist für mich wichtig, sowohl in der Wissenschaft, als auch bei meinen Hobbies.

Welches ist der am kompliziertesten auszusprechende Fachbegriff in Ihrem Forschungsgebiet und wie kann man ihn besucherfreundlich übersetzen?

Aeolidioidea (aeolis griechisch für Pfeife/Röhre). Der Begriff beschreibt die Familie der sogenannten Fadenschnecken. Die Tiere sind weltweit verbreitet. Ein weiterer Zungenbrecher ist Pteraeolidia. Diese Schnecke hat röhrenartige Rückenanhänge, die flügelartig (pteron griechisch für Flügel) angeordnet sind.

Welcher Aspekt Ihres Berufsalltags ist Ihr Highlight?

Fragen, Denken, Vernetzen, Entdecken und die Tiergruppe verstehen. Diese Kombination ist mein Highlight. Ich schätze die Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen anderer Forschungseinrichtungen, die Wissensvermittlung und die Zusammenarbeit mit Studierenden, daraus sprudeln Ideen und Themen: Die Meeresverschmutzung ist so ein großes Thema. Ich habe immer das Bedürfnis hinzuschauen, die Schönheit der Schnecken immer wieder zu entdecken. Schnecken sind die Schmetterlinge des Meeres. Das ist eine schöne Metapher. Denn Schnecken sind eigentlich nicht so die Lieblinge der Leute. Aber wenn man die Schönheit der Schnecken mit den vielen biologischen Aspekten spannend darstellt, dann begeistern sich nicht nur Forschende, sondern auch Kinder und andere Interessierte für diese Tiere.

Wohin würden Sie mich im Museum Koenig Bonn zuallererst führen? An welchem Ort im Museum Koenig Bonn sind Sie am liebsten?

Ins Histologie-Labor. Mit Hilfe der Histologie mit ihren Färbemethoden kann man aus kleinsten Gewebeproben große Erkenntnisse gewinnen. Aber auch der Museumspark ist ein sehr schöner Ort, den ich seit vielen Jahren in unserem Gartenteam mitgestalte. Am liebsten bin ich jedoch in meinem Büro. Hier entwickle ich mit Studierenden aus unserer Graduiertenschule und der Universität Bonn Ideen, erkläre viele Zusammenhänge, bearbeite Manuskripte und erstelle Gutachten.

 

Prof. Dr. Heike Wägele ist Leiterin der Sektion Phylogenetik und Evolutionsbiologie am LIB, Museum Koenig Bonn. Sie studierte Biologie in München, Kiel und Oldenburg. Seit ihrer Promotion widmet sie ihre Forschung den Meeresschnecken. Mehrere Forschungsaufenthalte führten sie unter anderem in die Antarktis, nach Australien und Indonesien. Seit 2005 ist sie Wissenschaftlerin am Museum Koenig Bonn und geht phylogenetischen und evolutionsbiologischen Fragestellen in der Gruppe der Hinterkiemerschnecken (Opisthobranchia) nach.

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