Entzündung ermöglicht evolutionäre Innovation in „schwangeren“ Reisfischen
Ein brütendes Weibchen der Reisfisch-Art Oryzias eversi, © Leon Hilgers
Ein zentrales Rätsel der Evolutionsbiologie ist wie komplexe Neuheiten scheinbar aus dem Nichts entstehen können. Forschende des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels fanden jetzt einen Beleg dafür, dass entzündliche Immunantworten das Fundament für neue Gewebe legen können. So entstand ein einzigartiges Gewebe: der Plug. Dieser ermöglicht es Reisfischmüttern ihre Eier zu tragen, bis sie schlüpfen. Eine solch „innovative Entzündung“ hat nicht nur die Fortpflanzung von Reisfischen revolutioniert, sie spielte auch eine Schlüsselrolle in der Evolution des Menschen.
Im Laufe der Evolution entstanden viele beeindruckende Anpassungen. So haben sich beispielsweise Vorderbeine in Meeressäugern nach und nach zu Flossen und in Fledermäusen sogar zu Flügeln entwickelt. Doch die natürliche Auslese wirkt nur auf bereits bestehende Merkmale. Was es noch nicht gibt, kann also auch nicht angepasst werden. Daher bereiteten Neuheiten die scheinbar aus dem Nichts entstanden, den Forschenden lange Kopfzerbrechen.
Neue Einblicke in dieses Rätsel lieferten nun Süßwasserfische aus dem Hochland der indonesischen Insel Sulawesi. Im Gegensatz zu den meisten Fischen überlassen bauchbrütende Reisfische ihre Eier nicht einfach ihrem Schicksal. Stattdessen tragen sie ihren Nachwuchs gut behütet auf den Bauchflossen mit sich herum. Ermöglicht wird diese erstaunliche Fortpflanzungsstrategie durch ein einzigartiges Gewebe, den sogenannten Plug. Der Plug bildet sich nach jeder Paarung im Mutterleib und verankert dort dünne Schnüre, sogenannte Filamente, an denen die Eier hängen. Während viele Fischarten Filamente bilden um ihre Eier zum Beispiel an Pflanzen zu befestigen, kommt der Plug ausschließlich bei bauchbrütenden Reisfischen vor. Doch wie kann eine so komplexe Anpassung überhaupt entstehen?
„Die neue Erkenntnis ist: Wiederholte Entzündungen, zum Beispiel im Fortpflanzungstrakt, können wie eine Werkzeugkiste der Evolution fungieren und ermöglichten die Entstehung des Plugs bei Reisfischen,“ erläutert Dr. Julia Schwarzer, Sektionsleiterin Evolutionäre Genomik am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Es lassen sich zudem Parallelen zwischen bauchbrütenden Reisfischen und der Schwangerschaft bei uns Menschen ziehen, denn eine abgewandelte Entzündungsreaktion liegt auch der Evolution der Embryoeinnistung in der Gebärmutter der Säugetiere zugrunde.
Eine Kombination aus anatomischen und genetischen Analysen des Plug Gewebes zeigte, dass Zellen und Signalwege, die am Aufbau des Plugs beteiligt sind, normalerweise vor allem Entzündungsreaktionen kontrollieren. Entzündungen treten bekanntlich nach Verletzungen auf, regen Zellteilung an, lassen Immunzellen einwandern, und Blutgefäße sprießen. Sie kontrollieren also viele Prozesse, die nicht nur der Wundheilung dienen, sondern theoretisch auch herangezogen werden könnten, um ein neues Gewebe wie den Plug aufzubauen.
„Als die Vorfahren der heutigen Bauchbrüter begannen, ihre Eier immer länger mit sich zu tragen, verursachten die Filamente nach jeder Paarung winzige Verletzungen im Fortpflanzungstrakt,“ führt Dr. Leon Hilgers, der Erstautor der Studie und inzwischen Postdoc am LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik, aus. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Internationalen Forschungsteams vermuten, dass die anschließenden Entzündungen im Laufe der Evolution so angepasst wurden, dass ein neues Gewebe – der Plug – entstand.
Die Erkenntnisse der Studie, die in der internationalen Zeitschrift Current Biology veröffentlicht wurden, betreffen nicht nur die Evolution der Reisfische. Bestimmte Gene wurden unabhängig voneinander für die Säugetierplazenta und den Reisfischplug rekrutiert. Die Evolution „fand“ also ähnliche Lösungen in völlig unterschiedlichen Tieren.